Boogie Woogie

Boogie Woogie


Über Boogie Woogie

Boogie Woogie ist heute ein international bekannter Musikstil, stets voller Swing und gefühlvollem Blues, der hochgradig rhythmisch und manchmal auch unsentimental verträumt unzählige Menschen in gute Laune versetzt. Als eine der vielen Spielformen des Jazz dürfte der Boogie eine Ausnahmestellung einnehmen, da die Musik nicht durch Bands, sondern im Gegenteil in erster Linie durch einzelne Musiker weiterentwickelt wurde. Es waren drei Pianisten, die Mitte der 30er Jahre den Stil zur Vollendung brachten und das prägten, was heute als "klassischer" Boogie Woogie bekannt ist: Albert Ammons (Chicago 1907 bis 1949), Meade Lux Lewis (Chicago 1905 bis 1964) und Pete Johnson (Kansas City 1904 bis 1967).

Die drei trafen mit ihrer Musik genau den Geschmack der 30er Jahre in den USA. Das war eine temporeiche Musik für eine Zeit voller gesellschaftlicher Dynamik. Sie sorgten so für eine Welle der Begeisterung, die zumindest für ein paar Jahre das ganze Land ergriff. Viele nachfolgende Musikstile wurden dadurch nachhaltig bis zum heutigen Tag beeinflußt. Aber beginnen wir doch am Anfang.

Angefangen hat alles um die Jahrhundertwende tief im Süden der USA, wo Klavierspieler eine auf Blues basierende tanzbare Musik spielten, welche bei dem fast ausschließlich schwarzen Publikum der unteren Schichten in Kneipen und Bordellen gut ankam.

Niemand nannte diese Musik damals Boogie Woogie, und man nahm Einflüsse auf, wo man sie nur hörte: Ragtime, Spirituals, kubanische Tänze, europäische Klassik spätromantischer Komponisten und Jazzklänge. Es gab unterschiedliche Bezeichnungen dafür, etwa "Barrelhouse" nach dem Ort der Darbietung (einer Spelunke, wo Alkohol aus Fässern ausgeschenkt wurde), "Dudlow Joe" (nach einem Ort im Staate Mississippi) oder bezogen auf Einzeltitel, wie etwa "The Rocks", "The Fives" und andere mehr.

Als sich während des Ersten Weltkrieges in den nördlichen und nordöstlichen Industriezentren verbesserte Arbeitsmöglichkeiten boten, zogen viele Schwarze entlang des Mississippi und Missouri nach St. Louis und weiter nach Chicago oder Detroit. Auch die Entertainer nahmen diese Wege, und wie alle Jazz- oder Bluesmusiker brachten die Klavierspieler Vorlieben und Stilformen ihrer Herkunftsorte mit in die Großstädte, wo bald eine Szene entstand, die Musikern genügend Möglichkeiten für Auftritte gab, bei denen sie Ideen austauschten.

Auch richteten kommerzielle Musikverwerter (Plattenfirmen, die mit sog. "Race Records" den schwarzen Konsum bedienten sowie Musikverlage, die schwarzen Künstlern oftmals die Rechte an ihren Kompositionen abkauften) ihr Augenmerk auf diese florierende Unterhaltungsbranche, und etliche Pianisten nahmen erfolgreiche und weit verbreitete Schellackplatten auf.

All dies führte zur Weiterentwicklung des frühen Pianoblues, wobei nach und nach der bislang häufige Ragtime-Einfluß durch mehr und schneller gespielten Blues ersetzt wurde. Auch wenn sich das Aufkommen in mehreren Städten des Mittelwestens, wie z.B. Kansas City, nachweisen läßt, war die Szene in Chicago wohl entscheidend für den neuen Stil. Hier nämlich kristallisierte sich eine urbane Pianobluesform heraus, für die nun die schon vorher gelegentlich verwendeten "Walking bass" genannten Bassläufe der linken Hand charakteristisch wurden.

Da es keine Stereo-Anlagen gab, saß eben in jeder Kneipe jemand am Klavier. Die berühmtesten Pianisten Mitte der zwanziger Jahren waren Jimmy Jancey, Hersal Thomas und Clarence "Pinetop" Smith, der durch seine große, hohe Figur und die ihm eigene schlaksige Körperhaltung den Beinamen "Pinetop" erhielt. Letzter nahm im Jahre 1928 einen Titel auf Platte auf, dem er den Namen "Pinetops Boogie Woogie" gab. Hier wurde zum ersten Mal die Bezeichnung Boogie Woogie verwendet. Obwohl die Scheibe gar nicht einen so riesig großen Erfolg hatte, prägte sich der Name dieser als Tanznummer gedachten Aufnahme ein und wurde zur Bezeichnung dieser sich gerade entwickelnden Musik. Leider hatte "Pinetop" Smith kaum Gelegenheit sich darüber zu freuen. Er kam ein Jahr später in einen Club durch eine (angeblich) verirrte Kugel ums Leben.

In diesem Zeitraum zogen also die jungen Pianisten Albert Ammons und Meade Lux Lewis "um die Häuser" und begegneten an so ziemlich jeder Ecke Piano Blues, sahen und hörten unzählige Pianisten und nahmen all diese Eindrücke auf. Die beiden waren in der Lage diese Eindrücke umzusetzen und jeder für sich einen charakteristischen eigenen Stil zu entwickeln, der nicht nur die damaligen Pianisten um ein vielfaches übertraf, sondern auch bis heute unerreicht geblieben ist. Albert und Meade kannten sich seit ihrer Kindheit und waren dicke Freunde. "Dick" kann man in diesem Zusammenhang auch wörtlich nehmen was ihr Aussehen betraf, Albert war groß und kräftig. Es heißt, er hätte die Statur eines Schwergewichtsboxers gehabt. Meade war derart korpulent, das man ihn auch "Mr. Five" oder doppelt ausgedrückt "big Five" nannte. Glaubt man dem Gerücht, so bezieht sich die 5 auf seine Fähigkeit unglaubliche Mengen an Nahrung in sich ´reinzustopfen oder auf seinen Sitzplatzbedarf bezogen auf die Einheit Stuhl. Seinen eigentlichen Spitznahmen "Lux" hatte er aber schon seit seiner Jugend. Er hatte irgendwann einmal von dem Land "Luxemburg" gehört, konnte damit nichts anfangen und nannte sich aus einer "Schnaps"-Laune heraus öfter "Earl of Luxemburg".

Es muß eine harte, aber auch irgendwie verrückte Zeit gewesen sein, in der Albert und Meade sich durchschlagen mußten, obwohl genau das die Phase war, in der sie die Grundsteine für eine spätere Veränderung der musikalischen Welt legten. So spielten die beiden auf einer Party, auf der illegal Alkohol getrunken wurde (Alkohol war infolge der Prohibition verboten). Als die Gesellschaft von der Polizei hochgenommen wurde, gelang es ihnen (trotz ihrer Korpulenz) durch ein Fenster zu flüchten. Nachdem die Luft wieder rein war, haben sie sich durch dasselbe Fenster wieder ins Haus geschlichen und alle Gläser ausgetrunken, die sie finden konnten. Albert war der Draufgänger der zwei, Meade eher schüchtern und auch pianistisch nicht so sensibel wie sein Freund, der nicht nur Blues und Boogie spielen konnte, sondern auch ein ausgezeichneter Jazz Pianist und Entertainer war. Trotzdem war es Meade, der 1927 als erster eine Schallplatte aufnehmen konnte, die 1929 (nachdem der "Pinetops Boogie" so gut angekommen war) veröffentlicht wurde. Der "Honky Tonk Train Blues" - inzwischen wohl der meistgespielte Piano-Boogie aller Zeiten.

Das Thema Dampflok taucht bei dieser Musik immer wieder auf, denn eine Boogie-Baßfigur imitiert das Rollen und Stampfen einer Eisenbahn. Man hört die Schienenstöße genauso wie das Dampfablassen des Heizkessels. Die Eisenbahn wird in diesem Zusammenhang als Symbol der Freiheit und Ungebundenheit verstanden, läßt sich aber ebensogut als Sinnbild für die damalige Aufbruchstimmung verstehen. Noch heute reden wir von den goldenen Zwanzigern! Im Jahre 1936 entstanden auch von Albert Ammons die ersten eigenen Aufnahmen mit seiner Band, den "Rhythm Kings". Auch wenn die beiden mittlerweile Erfolg hatten, konnten sie doch nicht ausschließlich von ihrer Musik leben. Sie arbeiteten als Kellner, Autowäscher oder als Mechaniker in einer Autowerkstatt.

Wahrscheinlich hätte die Welt niemals richtig Notiz von dieser fantastischen Musik und diesen Ausnahmemusikern genommen, wäre nicht folgendes passiert: Der einflußreiche Plattenproduzent John Hammond aus New Jork wollte im Dezember 1938 ein großes Jazz Konzert in der renommierten New Yorker Carnegie Hall mit dem Titel "From Spirituals to Swings" veranstalten. Als Jazz-Liebhaber wollte er die Musik der Schwarzen einem großen weißen Publikum präsentieren. Durch Zufall bekam er die 1927 von Meade Lux Lewis aufgenommene Version des Honky Tonk Train Blues zu hören und war besessen von der Idee, diesen Pianisten in seinem Konzertsaal vorzustellen. Wie findet man aber in einer Millionenstadt wie Chicago in den Schwarzenvierteln einen Pianisten namens Lewis? John Hammond ist dorthin gereist und hat Nacht für Nacht die Clubs und Kneipen besucht und hat schließlich Albert Ammons im Club "De Lisa" getroffen, der ihn dann endlich zu Meade führen konnte. Hammond hat dann kurzerhand beide Pianisten nach New York eingeladen. Dort hat er sie mit Pete Johnson, dem dritten der Boogie Woogie Boys zusammengebracht. Pete Johnson aus Kansas City hat seine Musikkarriere als Schlagzeuger begonnen, wozu er bald keine Lust mehr hatte, da der Drummer immer als erster am Auftrittsort sein mußte um das Schlagzeug aufzubauen, als letzter fertig war und immer so viel tragen mußte. Glücklicherweise entschied er sich dann Klavierspielen zu lernen und wurde zu einem herausragenden Boogie und Jazzpianisten.

Die Boogie Einflüsse für sein Spiel erhielt er vom Pinetops Boogie (er besaß die Schellak, die er immer wieder hörte) und hier schließt sich wieder der Kreis mit Chicago. John Hammond hatte Johnson zusammen mit seinem Sänger und Freund Big Joe Turner bereits Mitte der 30er Jahre bei einem Besuch in Kansas City kennengelernt und war restlos begeistert. Endlich war es dann soweit. Am Abend des 23. Dezember 1938 richtete die ganze Stadt die Augen auf die Carnegie Hall. Die "Top-Acts" waren natürlich die großen und bekannten Big Bands von Benny Goodman und Count Bassie, auch spätere Blues-Stars wie Sonny Terry und Big Bill Broonzy waren im Progamm aber die Sensation des Abends war unser Boogie Trio. So eine Darbietung hatte noch niemand erlebt.

Drei Boogie Pianisten gleichzeitig, jeder für sich ein Meister der Tasten, zusammen eine perfekte Einheit, mit donnernden Bäßen und mit reißenden Improvistationen. Eigentlich nur als Programmergänzung gedacht, stellten die Boogie Woogie Boys alles andere in den Schatten. Nach dem Konzert stand die musikalische Welt komplett auf dem Kopf. Die Zeitungen waren voll des Lobes. Die Boogie Woogie Boys spielten in landesweit übertragenden Radios Shows und hatten Engagements bei den ersten Adressen in New York und Chicago, z.B. im Cafe Society oder im Hotel Sherman. Es wurden eine ganze Menge Aufnahmen produziert und Ammons, Lewis und Johnson konnten für einige Jahre sehr gut als Musiker leben. Boogie Woogie verbreitete sich wie ein Buschfeuer in kürzester Zeit über das ganze Land. Das große Geschäft mit der Musik machten aber nach wie vor die populären Big Bands, die natürlich die Zeichen der Zeit erkannten und schnell mehrere Boogies im Repertoire hatten. Der bekannteste Boogie aller Zeiten ist noch immer Glenn Millers "in the Mood".

All dies führte bereits nach wenigen Jahren zu einer Übersättigung des Marktes. So ziemlich jeder Pianist und jede Band versuchte sich jetzt am Boogie Woogie teilweise auch leider mit katastrophalen Ergebnissen. Boogie- Piano setzt ein hohes Maß an Technik, Gefühl für Musik, Kraft, Ausdauer und Begabung voraus und nur die wenigsten waren in der Lage Boogie Woogie wirklich überzeugend zu spielen. So kam es wie es kommen mußte; Ende der 40er Jahre wollte niemand mehr etwas von Boogie Woogie hören und wissen. Rhythm´n Blues, Rock´n´Roll und Bebop wurden modern und populär. Ammons hatte in dieser Zeit viele bekannte Schlager als Boogies gespielt und wurde noch kurz vor seinem Tod im Jahre 1949 Pianist der berühmten Lionel Hampton Big Band. Lewis und Johnson mußten sich wieder als Gelegenheitsarbeiter verdingen. Meade starb 1964 bei einem Autounfall und Pete, nach einem Schlaganfall bereits halbseitig gelähmt, starb 1967. Übrig blieb eine Auswahl von Enthusiasten, die diese Musik hörten, auf Platten sammelten und gelegentlich auch spielten. Einer dieser Pianisten ist Bob Seeley, der als junger Mann mit Lewis befreundet war und von ihm persönlich lernen konnte. Bis auf diese wenigen Fans und Musiker geriet der Stil dann für einige Jahrzehnte in Vergessenheit.

Während der Boogie in den USA auch heute noch nur wenige Liebhaber hat, lebte Ende der siebziger Jahre der Boogie Woogie in Europa, speziell in Deutschland wieder auf. Dies ist im wesentlichen auf den Hamburger Pianisten Axel Zwingenberger zurückzuführen, dessen Bedeutung für diese Musik beinahe mit der des Boogie Trios der dreißiger gleichzusetzen ist. Der junge Axel hörte durch Zufall eine alte Aufnahme von Pete Johnson, gab von einem Moment zum anderen seine klassische Ausbildung auf und setzte alles daran, Boogie in der Tradition der großen Drei zu lernen und zu spielen. Nach ungewöhnlich kurzer Zeit hatte er ein Niveau erreicht, das ihn unanfechtbar zum besten Boogie-Pianisten unserer Zeit machte. Er produzierte zahlreiche Schallplatten, unter anderem mit Big Joe Turner und Lionel Hampton, tourte durch ganz Europa, spielte in Afrika und Rußland und ist maßgeblich für die Renaissance des Boogie Woogie in unseren Tagen verantwortlich. Im Jahre 1996 spielte er unter anderem mit Bob Seeley in der New Yorker Carnegie Hall, und fühte damit diese Musik zu ihren Anfängen zurück. Axel Zwingenberger inspirierte durch seine Konzerte eine ganze Generation junger Pianisten, die durch ihn auch auf Ammons, Lewis und Johnson aufmerksam wurden. Einer von ihnen ist Jörg Hegemann aus Witten, der 1983 Zwingenberger live erlebte und inzwischen mit seinem kraftvollen, sehr stark von Albert Ammons geprägten Stil, zu den herausragenden Vertretern dieser Zunft gezählt werden muß.

Boogie Woogie, nicht nur Jazzstil sondern auch Lebensgefühl hat eine stürmische Entwicklung hinter sich gebrach, aber das, was die Boogie Woogie Boys vor vielen Jahren geschaffen haben ist einfach so gut, daß es niemals vergessen werden kann.

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